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Dienstag, 28. August 2012

Die Neue Stadt Wulfen - Moderne Stadtplanung in den Sechzigerjahren



Kürzlich hatte ich mal wieder völlig unerwartet Geburtstag, und so stand plötzlich die Frage im Raum, zu welchem spektakulären Ziel der alljährlich am 4. August stattfindende Ausflug diesmal führen sollte. Nach dem Keramion von Peter Neufert (Link) im letzten und dem Barcelona Pavillon im vorletzten Jahr ging die Fahrt schließlich in die Neue Stadt Wulfen bzw. nach Wulfen Barkenberg, wie es sich heute nennt. Aufmerksam war ich auf Wulfen durch die Ausstellung „Architektur im Aufbruch. Planen und Bauen in den Sechzigerjahren“ des M:AI im Oktober letzten Jahres in Köln geworden, bei der das Modell eines spektakulären Gebäudes namens Metastadt zu sehen war. Es  wirkte, als sei es der Prototyp für die moderne Stadt des dritten Jahrtausends in irgendeinem japanischen Science-Fiction-Film. Tatsächlich aber war es für die Neue Stadt Wulfen konzipiert worden.


Nachdem sich der Bergbau im Ruhrgebiet immer weiter nach Norden ausgedehnt hatte, beschloß man anläßlich der Eröffnung der Zeche Wulfen bei Dorsten, nicht nur ein neues Wohngebiet nach dem Vorbild typischer Werkssiedlungen anzulegen, stattdessen sollte eine gesamte Stadt entstehen, die Neue Stadt Wulfen. Lage der neuen Stadt sollte die landschaftlich sehr schöne Gegend in der Nähe Dorstens sein.

Ich hatte das Glück, in Oliver Korn, dem frisch angetrauten Ehemann einer langjährigen Freundin, einen Ortskundigen zu finden, der in Barkenberg aufgewachsen und nach wie vor ein euphorischer Fan der gesamten Anlage ist. Unsere kleine Reisegruppe hat er mit Hintergrundwissen und Anekdoten über das echte Leben auf den Straßen der Experimentalstadt versorgte.

Den 1961 ausgelobten Wettbewerb zur Planung der neuen Stadt gewannen Fritz Eggelin und sein Team, die allesamt an der TU Berlin tätig waren. Von Anfang an wollte man die Schwachstellen einer Trabantenstadt vermeiden, und so zog man zusätzlich Soziologen, Biologen, Landschaftsarchitekten, Verkehrsplaner etc. zu Rate.

Bei der Gestaltung der Stadt wurde auf einen Wechsel der verschiedenen Gebäudeformen Wert gelegt, auf das Verwenden unterschiedlichster Materialien und Farben, auf wechselnde Geschoßhöhen etc. Auch die zwischen den Gebäuden gelegenen Räume und Plätze sollten sich in ihren Dimensionen, Farben und Formen unterscheiden, was wiederum durch eine gezielte Bepflanzung erreicht wurde.

Der Napoleonsweg, eine alte Baumallee, die als Diagonale in den Grundriss der neuen Stadt integriert wurde
Als Basis wurden zunächst die Straßen und Wege angelegt, die Lage und Grundform der Gebäude bestimmten. Tatsächlich ist das Fußwegenetz  Wulfen Barkenbergs komplett von dem der Autostraßen getrennt und unzählige Brücken und Unterführungen garantieren eine sichere Verkehrsführung. Aber entgegen aller Bemühungen trennen die Straßen auch die einzelnen Wohngebiete der Stadt und das gefürchtete Zoning, die absichtliche Trennung unterschiedlicher Funktionsbereiche einer Stadt und damit auch verschiedener Bevölkerungsanteile, fand laut unserem Reisführer Oliver dennoch statt. 



Tatsächlich bemerkte man beim Überqueren der Brücken trotz aller Durchmischung der Bauformen die Unterschiede zwischen dem Gebiet, in dem vorzugsweise die Lehrer der riesigen barkenberger Gesamtschule in ihren Bungalows wohnen und den Gegenden, in denen es auch mal heißt: „Ey, du kriegst gleich watt aufs Fressbrett!“. Oder wo in den 80erjahren der Discobesitzer beim Halmaspielen seine Disco verloren hat. Oder wo immer noch die gleichen Typen vorm Büdchen herumstanden, wie in Olivers Kindheit, der übrigens immer wieder beteuerte, daß auf den Straßen Barkenbergs auch Blut geflossen ist.

Beispiele für die ganz unterschiedlichen Entwürfe der Reihenhäuser

Zurück zum Wohnungsbau. Von 1964 - 74 entstanden zunächst 1350 öffentlich geförderte Mietwohnungen, allerdings in unterschiedlicher Qualität. Das sogenannte Y-Hochhaus beispielsweise wurde vor einigen Jahren abgerissen, weil es angeblich unter massiven baulichen Mängeln litt. Andere Hochhäuser wurden auf vier Stockwerke zurückgebaut. Tatsächlich schwindet in Barkenberg massiv die Bevölkerung, mehr noch, die zu Beginn der Planung prognostizierten Bevölkerungszuzüge wurden bei weitem nie erreicht. 

Abriß des Y-Hochhauses am Handwerksmarkt. Moderne Medien ermöglichen es, sich genau vor Ort entsprechendes Bildmaterial anzuschauen. Im Hintergrund: eines der rückgebauten Hochhäuser.
Wohnhaus in der Nähe des Handwerkermarktes
Die Finnstadt jedoch, ein von Toivo Korhonen entworfener viergeschossiger Terrassenbau mit großen Eigentumswohnungen wird bis heute begeistert angenommen, sodaß sogar eine zweite, mit schwarzem Schiefer verkleidete Finnstadtgebaut wurde. 

Treppenhaus in der Finnstadt
Im Jahr 1970 fand in Wulfen Barkenberg dann die Erste Deutsche Fertighausausstellung statt (Link) und es entstanden in kürzester Zeit fünfundzwanzig Flachdachbungalows in verschiedenen Leichtbauweisen. Überhaupt ist es sehr erfreulich zu sehen, wie in Barkenberk bis heute vorrangig Flachdächer zu sehen, und tatsächlich wurden Eigenheimkäufer, nicht nur der Fertighäuser, vertraglich dazu verpflichtet, gestalterische Vorgaben einzuhalten.

Mit der Metastadt kehren wir zum eigentlichen Anlaß unserer Reise zurück. Wo 1973 - 74 nach den visionären Ideen von Richard J. Dietrich (Link) direkt am Barkenberger See der „Prototyp eines industriell gefertigten Montagesystems“ entstand, befindet sich heute ein Seniorenheim in fadem Durchschnittslook.

Modell der Metastadt bei der Ausstellung "Architektur im Aufbruch" des M:AI
Dietrichs Metastadt stellte ein Modulsytem dar, bei der das Tragwerk in einer Stahlkonstruktion bestand, in das die Wohnungen flexibel eingefügt werden konnten. Mit der Metastadt entstanden in der Neuen Stadt Wulfen wietere einhundert  Wohnungen, aber auch Geschäfte, Büros und ein Kindergarten. Zur gleichen Zeit baute man auf der gegenüberliegenden Seite des Barkenberger Sees die Gesamtschule und Olivers Erzählungen nach war es dort nicht einfach, sich angesichts des Ausblicks auf die hypermoderne Wohnanlage auf den Unterricht zu konzentrieren. 

Habiflex, Richard Gottlob und Horst Klement 1974
Angebliche Baumängel und zunehmender Leerstände durch das Entstehen einer neuen Ladenpassage, dem Wulfener Markt, führten 1987 schließlich zum Abriß der Metastadt. Betrachtet man das Modell des Gebäudes und malt sich aus, wie es sich leben mag in einem derartig futuristischen Experimentalhaus, mit den unzähligen Terrassen, Durchgängen und großen Fenstern, dann beschleicht einen die übliche Verbitterung. Man möchte sich mit einem Blick auf das Habiflex (Link) trösten, einem weiteren ausgesprochen schönen Terrassenwohnhaus aus dem Jahr 1974, doch auch hier hat man die gesamten unteren Stockwerke zugemauert und hofft inständig auf die Erlaubnis, das Betonteil endlich abreißen zu dürfen. 
Die Katholische Kirche St. Barbara, die ursprünglich aus en Sechzigerjahren stammt, erhielt in den Achzigerjahren aufgrund ihres undichten Flachdachs einen Glasaufsatz, der den Lichteinfall in das Kircheninnere durch diverse kreisrunde Einschnitte in der Originaldecke weiterhin garantiert.
Direkt neben St. Barbara befand sich ursprünglich das erste Einkaufszentrum Barkenbergs, das mit dem Bau des Wulfener Marktes in Wohnungen umgewandelt wurde.
In der Ladenpassage Wulfener Markt von Josef Paul Kleihues musste man seit ihrer Eröffnung im Jahr 1982 gegen den Leerstand und ständig wechselnde Geschäfte ankämpfen, und als wir an diesem sonnigen Nachmittag mit unseren Fahrrädern dort anlangten, war dort fast niemand unterwegs. Unser Reiseleiter war schockiert, kannte er das neben der Gesamtschule gelegene Einkaufszentrum doch nur in reger Geschäftigkeit. Einige wenige Passanten kamen vorbei und wunderten sich, daß sogar die Eisdiele geschlossen hatte, an einem Samstag in den Sommerferien.

Kleihues' Rundbau am Wulfener Markt
Der Plan, mit der neuen Stadt Wulfen eine pulsierende Kleinstadt in der wunderbaren Landschaft des nördlichen Ruhrgebiets zu schaffen, ist auf lange Sicht trotz aller Überlegungen wohl gescheitert. Als Wohngebiet ist Barkenberg offensichtlich nach wie vor attraktiv, die schwierige Anbindung an das Schienennetz und die damit verbundene Abgelegenheit Barkenbergs, sowie die Demontage der Zeche Wulfen ab dem Jahr 1998, befördern den Zuzug neuer Bewohner allerdings nicht unbedingt. Ab 2007 wurden Hochhäuser auf wenige Stockwerke zurückgebaut oder abgerissen. Und auch der zweispurige Ring der Hauptstraße soll demnächst auf eine Fahrbahn reduziert werden.

 

Die Fahrt nach Wulfen Barkenberg war ein absolut spektakulärer Geburtstagsausflug. Die Vorstellung aber, daß die große Vision einer idealen Stadt im Grünen so scheitern konnte und die Angst vor Barkenbergs Zukunft als Geisterstadt dort deutlich im Raum schwebt, ist tragisch. Es ist zu hoffen, daß der große Zusammenhalt der Bewohner in den verbleibenenden Wohngebieten, beispielsweise das der Lehrer, die neue Stadt Barkenberg noch lange am Leben hält.

Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bei Oliver bedanken, der mit uns nicht nur stundenlang durch Barkenberg geradelt ist und uns all die zahllosen lustigen und tragischen Geschichten aus dem Leben der Bewohner der Neuen Stadt erzählt hat. Darüber hinaus hat er mich auch auch mit der entsprechenden Literatur versorgt. Somit stammt ein Teil meiner Informationen aus dem Buch „Neue Stadt Wulfen - Idee, Entwicklung, Zukunft“ von Sabine Bornemann et al., Dorsten 2009.

Auf das Habiflex und die Metastadt werde ich in einem gesonderten Bericht noch einmal näher eingehen.